Der Sinologe und Autor Marcus Hernig hat über den Erfinder der Seidenstraße, Ferdinand von Richthofen, ein Buch geschrieben. Hernig lebt seit den Neunzigerjahren in China, hat einen kundigen Blick auf das Land – im Gegensatz zu vielen Politikern und Journalisten. Ein Gespräch.

Warum wollten Sie ein Buch über den deutschen Geographen und Kartographen Ferdinand von Richthofen (1833-1905) schreiben? 

Marcus Hernig: Mit der Seidenstraße beschäftige ich mich sehr intensiv seit dem Jahr 2017. Die Neue Seidenstraße gibt es seit 2013 und startete damals als ein geopolitisches Projekt, in das auch die Europäer viel Hoffnung steckten. Anders als heute, wo Systemrivalität herrscht. Wer sich mit der Seidenstraße befasst, stößt zwangsläufig auf Ferdinand von Richthofen. Er machte den Begriff erst bekannt. Ich war schon als Kind ein begeisterter Kartenzeichner, meine erste Karte über China schenkte ich meiner Grundschullehrerin. Außerdem haben mich Biographien schon immer interessiert, weil sie den Dargestellten erlebbar machen. Biographien sind in China sehr beliebt. Chinesen nehmen sich ihre Landsleute, die in einem bestimmten Bereich sehr erfolgreich sind, gerne als Vorbilder. Ein bekanntes Beispiel ist der Unternehmer Jack Ma, der Gründer von Alibaba. Er ist zwar politisch in Ungnade gefallen, aber er war in den frühen 2000ern ein richtiges Idol. Es gab sehr viele Bücher über ihn zu lesen. 

Marcus Hernig, geboren 1968, studierte Germanistik, Sinologie und Geschichte in Bochum und Nanjing. Er lebt seit den Neunzigerjahren in China, wo er zur Seidenstraße und den deutsch-chinesischen Beziehungen lehrt. Foto: Ye Fang

Wie beurteilen Sie den Blick Deutschlands und der westlichen Welt auf China?

Ich finde die Entwicklung sehr bedauerlich, die Diskurse stimmen nicht und sind sehr eingeschränkt. Es wird auf beiden Seiten monologisiert, auf deutscher Seite zu sehr moralisiert. So können keine Dialoge stattfinden. China wird oft in ein Boot mit Russland gesetzt. Sie sind aber nicht die allerbesten Freunde, auch wenn das nach außen so wirken mag. Dafür ist geschichtlich zwischen den beiden Ländern zu viel passiert. Auch China baut sich seine eigene Welt, will nur seine Geschichte erzählen und achtet nicht darauf, ob seine Sicht gehört werden möchte. 

An verschiedenen Stellen in Ihrem Buch liest man heraus, dass sich die Chinesen nicht wertgeschätzt fühlen und andere Länder ihre geringe Wertschätzung die Chinesen auch spüren lassen. Woher kommt das eigentlich?

China war es gewohnt, der Mittelpunkt seiner Welt zu sein. Es ging nicht um die Bildung von Staaten oder Nationen, sondern um kulturelle Bildung und den Fortbestand einer eigenen Welt: wie man lebt, wie man Politik macht, wie man Menschen bildet, wie man Handel treibt, was man isst. Damit hat China Standards gesetzt, an denen sich andere Länder orientiert haben. Dann kam der Schock im 19. Jahrhundert, als sich die westliche Welt anschickte, China einzuverleiben. Das führte zu großen Brüchen, die bis heute nicht gekittet sind. Es ist ihnen nicht gelungen, China in den westlichen Kulturraum zu integrieren. Zusätzlich gab es lange Phasen der Revolution, in denen China nicht zur Ruhe kam. Ab 1978 fand eine Öffnung statt und es gab vor allem den in Deutschland beliebten Spruch “Wandel durch Handel”, der heute noch gerne zitiert wird. Es ist bis heute ein Fehlglaube, dass sich durch Handelsbeziehungen gesellschaftliche, kulturelle Systeme grundlegend verändern. 

Auch das Interesse deutscher Politiker an China wirkt nicht sonderlich groß. Oft hat man den Eindruck, dass die Berichterstattung in den Medien über China sehr einseitig ist. Wie beurteilen Sie das?

Jeden Tag liest man etwas über China, das ist alles ähnlich und auch in den meisten Fällen leider nicht sehr hintergründig. Die deutsche Politik ist sehr mit sich beschäftigt und sehr beengt, aber wir leben in einer Welt, die nicht nur aus Europa besteht. Den wirklich interessierten Dialog mit Asien sollte man nicht vergessen. Die Franzosen oder Niederländer blicken ganz anders auf die Welt. Das hat mit ihrer Kolonialstruktur zu tun, auch wenn ich die nicht schönreden will. Bei den Deutschen hat man zunehmend den Eindruck, dass sie davon leben, was sie sich „mitten in Europa“ zusammen gekocht haben. Und das ist bei den aktuellen Krisenherden ein bisschen wenig, wenn man versuchen will, diese auch nur ansatzweise zu lösen. Viele Chancen, vor allem in Ostasien, werden nicht hinreichend genutzt.

Was spricht gegen eine friedliche Koexistenz zwischen China und dem Westen?

Koexistenz ist insofern gut, da sie bedeutet, dass der eine den anderen existieren lässt. Die rigorose Innenpolitik der Chinesen ist nicht von der Hand zu weisen, aber China hatte in der internationalen Handelspolitik nie das Verständnis wie die Amerikaner, dass man die Welt missionieren muss, um sie zu einer besseren zu machen. Die Welt wird dadurch nicht besser. 

Sie haben viele Jahre in China gelebt, sind mit einer Taiwanerin verheiratet. Wie schätzen Sie die Lage in Taiwan ein?

Ich glaube nicht an eine Attacke der Chinesen gegen Chinesen, denn aus Sicht von China gehört Taiwan zu China. Xi Jinping hat auch gesagt, dass er keine Chinesen angreift. Auch viele Taiwaner wollen keinen Krieg. Viele sagen auch, wir kämpfen nicht gegen Chinesen, wir kämpfen nicht gegen unsere eigenen Schwestern und Brüder. Meine Sorge ist eher, dass etwas Geplantes oder Ungeplantes passieren könnte, das das Ganze zum Ausbruch bringt. Etwa durch die Amerikaner, die eine starke Militärpräsenz auf Okinawa haben und ihre Aufklärungsdrohnen oder ihre AWACS zum Einsatz bringen. Es kann auch sein, dass die Chinesen eine Rakete abschießen oder dass sich ein russisches U-Boot in der Taiwanstraße verirrt. Ich glaube daher nicht an eine Kriegserklärung durch China, weil das Land wirtschaftlich und kulturell zu eng mit Taiwan verbunden ist. Das sind keine Nationen, die sich spinnefeind gegenüber stehen. Ich habe Freunde aus China und Taiwan, die einen Teehandel betreiben und Teezeremonien abhalten. Da steht nichts als die chinesische Kultur im Vordergrund. 

Woher kommt Ihr Interesse für China?

Ich hatte schon als Kind diese Neugier für das, was östlich liegt. Ich mochte Geschichte, Erdkunde und Sprachen. Mit 18 belegte ich meinen ersten Chinesischkurs an der Volkshochschule. Es gefiel mir so gut, dass ich u.a. Sinologie studieren wollte. 

Foto: Die Andere Bibliothek

Was sind Ihre Eindrücke von China?

Die intensivsten Begegnungen hatte ich in jungen Jahren auf Reisen mit der Bahn. Ich traf Bauern, einfache Leute und Studenten. Ich unterhielt mich unter anderem mit ihnen über ihre alltäglichen Sorgen und wie die Menschen vor Ort auf die Politik schauen. Einmal wurde ich sogar spontan zu einer illegalen Hochzeitsfeier eingeladen, weil der Bräutigam aufgrund seiner Minderjährigkeit nach damaligem chinesischen Recht ja noch gar nicht heiraten durfte. Bis 2010 dominierte in China die Landbevölkerung, erst ab 2011 gibt es statistisch mehr Städter. Das war damals eine einzigartige Atmosphäre. Die Standardfragen an mich waren immer: Wo kommst du her? Was verdienst du und wie toll ist Deutschland? Heute fragt das keiner mehr, weil alle auf ihr Handy starren (lacht). 

Auch das Essen hat in China eine wichtige Bedeutung

Beim Essen in China sieht man, welche Bedeutung das Bäuchliche für das Selbstverständnis der Chinesen hat. Überall wird gekocht, lokale Spezialitäten spielen eine Rolle, jedes Gericht hat seine eigene Geschichte. In China kann jeder endlos über das Essen und seine Vorlieben sprechen. Ich habe auch ein Buch über das Essen in China geschrieben (“Eine Himmelsreise: China in sechs Gängen”). Das Essen ist vielleicht sogar DIE Soft Power des Landes. Man müsste nur noch Chinas Köche mit ihren regionalen Küchen in die ganze Welt schicken, damit endlich der schreckliche Einheits-Chinaimbiss besiegt wird. Erst wenn China kein Fast Food mehr ist, dann haben wir endlich richtigen Austausch erreicht (lacht). 

China-Experte Marcus Hernig über Taiwan: „Glaube nicht an eine Kriegserklärung durch China“

Beitragsnavigation


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent mit Real Cookie Banner