„Der Alte weiße Mann: Sündenbock einer Nation“ heißt das Buch, das der ehemalige Universitätsprofessor und Medienwissenschaftler Norbert Bolz geschrieben hat. Im Interview spricht der 69-Jährige darüber, warum heute Gefühle die Argumente dominieren und warum Deutsche gerne so moralisch unterwegs sind.

Herr Bolz, Sie sprechen in Ihrem Buch “Der alte weiße Mann: Sündenbock der Nation” von einem kulturellen Bürgerkrieg. Was meinen Sie damit?

Norbert Bolz: Die Betonung liegt auf kulturell, denn im Bürgerkrieg würde Blut fließen und den Bürgerkrieg haben wir Gott sei Dank seit der Reformation nicht mehr erlebt. Der Begriff ist aber scharf genug, wie ich meine, um die Bezeichnung zu rechtfertigen. Wir haben es mit einer Aufteilung der Gesellschaft in Gut und Böse zu tun. Auf der einen Seite gibt es die Guten und auf der anderen Seite diejenigen, die mit der Agenda der Guten nicht konform gehen und deshalb zu den Bösen gehören. Und für die Bösen wurde der ideale Sündenbock gefunden, nämlich der alte weiße Mann. Diese scharfe Trennung von Gut und Böse, der den anderen gar nicht mehr als Diskussionspartner oder politischen Opponenten wahrnimmt, sondern stigmatisiert oder ihn zum Outlaw macht, hat mich veranlasst, vom kulturellen Bürgerkrieg zu sprechen.

Können Sie ein Datum oder ein Ereignis festmachen, in dem diese Trennung zwischen Gut und Böse immer extremer wurde?

Mit der Wokeness-Welle, die aus den USA und England zu uns herüberschwappte, sind diese Extreme ins allgemeine Bewusstsein getreten. Insofern könnte man meinen, dass sich mit der Wokenesss das Extrem zwischen Gut und Böse manifestiert hat. Ich wollte aber mit meinem Buch zurückverfolgen, wo die Quellen dieser Entwicklung liegen. Und die führen in der Tat sehr weit zurück. Für alle nachvollziehbar sind noch die Studentenbewegungen der 68er-Generation. Doch in Wahrheit lässt sich das bis zur Boheme Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Damals entwickelte sich eine radikale Antibürgerlichkeit, die sehr gut von den Früchten der Boheme gelebt hat, gewissermaßen waren das die Parasiten der bürgerlichen Gesellschaft. Die Studentenverbindungen der 68er haben viele dieser Motive wieder aufgegriffen. Heute finden wir das in extrem abgeflachter, aber militanter Form wieder.

Norbert Bolz, Foto: privat

Warum dominieren heute eher Gefühle statt Argumente?

Weil das die Welt unendlich vereinfacht. Wer seinen Gefühlen freien Lauf lässt, muss nicht nachdenken, analysieren und reflektieren. Es ist am einfachsten, alle Probleme Personen anzulasten. Der Sündenbock nimmt alles Böse und Übel auf sich, man muss ihn nur noch in die Wüste schicken. Das ist das Urbild des Sündenbocks, dann ist die Gesellschaft von allem Bösen und Übel befreit. Wir sind eigentlich eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft. Es ist schon faszinierend zu beobachten, dass wir in diese extrem primitive Mentalität wieder zurückgefallen sind.

Und ich halte das für eine verheerende Wirkung, wenn nicht mehr argumentiert und diskutiert wird. Und um ganz offen zu sein, weiß ich auch nicht, wie man den Hebel ansetzen könnte, um das Ganze zu revidieren. Zur Zeit der Studentenbewegung musste man noch Texte lesen, um an einer Diskussion teilzunehmen. Heute genügen wenige Parolen: Rassismus, Antifeminismus, Querfeindlichkeit und Transfeindlichkeit. Dann gehört man zu den Guten und alle, die darüber den Kopf schütteln, zu den Bösen.

Jetzt könnte man meinen, dass Journalisten eine neutrale und sachliche Position einnehmen sollten, aber es machen doch einige auf dieser Gefühls- und Moralebene mit

Ja, das ist sehr erstaunlich. Journalisten üben einen intellektuellen Beruf aus und müssten aufgrund ihrer Ausbildung und Herkunft, die Fähigkeit zum Denken haben. Und es gibt zum Glück noch Journalisten, die analysieren und denken können, die nüchtern und sachlich bleiben. Aber wir haben es heute offenbar mit einer neuen Generation von Journalisten zu tun, die sich auch selber als Haltungsjournalisten oder werteorientierte Journalisten bezeichnen. Das heißt, sie wollen gar nicht mehr über die Welt berichten, sie wollen keine Nachrichten aufarbeiten, sondern sie wollen Engagement zeigen, sie wollen die Welt verbessern. Man nimmt Abschied von dem alten Objektivitätsideal. Dieses lässt sich natürlich schwer erreichen, aber man kann es zumindest anstreben, so sachlich wie möglich zu berichten und auch andere Meinungen zu Wort kommen lassen. Aber davon hat man sich bewusst verabschiedet. Man sagt in aller Deutlichkeit: Wir wollen gar nicht mehr versuchen, objektiv zu sein. Diese Haltung, die für Politiker selbstverständlich ist, ist bei Journalisten neu und greift mittlerweile auch auf die Wissenschaftler über. Das trifft mich als ehemaligen Wissenschaftler besonders hart, dass es immer mehr Gefälligkeitswissenschaftler gibt, die sich ganz in den Dienst einer Politik stellen.

So etwas kann doch dem Journalismus nur schaden?

Der Journalismus hat schon seit vielen Jahren eine katastrophale Reputation. Fast so schlecht wie die der Politiker. Aber das ändert nichts an der Herrschaftsmacht dieser Klasse. Das ändert auch nichts an der Meinungsdominanz des Journalismus. Deswegen bin ich unter Protest vieler dazu übergegangen, von einer politisch medialen Elite zu sprechen. Es gibt eine enge Verflechtung von Schlüsselfiguren des Journalismus und Spitzenpolitikern. Denen ist es herzlich gleichgültig, was der Rest der Welt denkt. Sie haben ein ganz anderes Verhältnis zu den Bürgern, nämlich ein paternalistisches. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass die Bürger an die Hand genommen werden müssen. Die Politiker und die Journalisten gehen davon aus, dass man die Bürger erziehen muss, weil sie nicht die richtigen Parteiprogramme im Kopf haben. Journalismus und Politik wird an den Bürgern vorbeigemacht. Man darf nicht vergessen, dass das auch gewollt ist. Man will ein neues Volk und ein neues Bewusstsein schaffen. Das ist eine Parallele zu den 68ern, damals war auch von Bewusstseinsveränderung die Rede. Weder Spitzenpolitiker noch Journalisten gehen davon aus, dass sie auf das Volk hören müssen. Ihnen stehen die Bürger mit ihrem habituellen Konservatismus nur im Weg.

Sie werden im April 70, gehören damit zu den alten weißen Männern. Was sind Ihre Erfahrungen, wenn Sie öffentlich oder privat diskutieren?

Alt ist nicht nur der Inbegriff bestimmter Vorurteile, alt ist auch ein Lebensalter, das einem Lizenzen gibt, die man sonst nicht hat. Das gilt vor allem heute. Es ist kein Zufall, dass ich nicht nur ein alter, sondern auch ein pensionierter Mann bin. Ich muss nicht mehr Karriere machen, muss nicht zum Rapport bei meinem Vorgesetzten. Ich habe eine Freiheit, die viel größer ist, als die von Kollegen, die zwischen 30 und 40 sind und noch Karriere machen wollen. Ich kann jeden Journalisten und Wissenschaftler verstehen, der einfach nur den Mund hält.

Ist das nicht traurig, wenn man sich nicht mehr traut, seine Meinung zu sagen? Eine Allensbach-Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht. Nur 45 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass sie ihre politische Meinung frei äußern können

Der Philosoph Leo Strauss hat einmal gesagt, wenn man wegen abweichender Meinungen verfolgt wird, ist man gezwungen, subtil zu schreiben. Es gibt viele rhetorische Mittel, um zwischen den Zeilen zu schreiben. Wenn ich 30 oder 40 wäre, würde ich mein Buch nicht “Der alte weiße Mann“ nennen. Und man kann mit Humor und Ironie arbeiten. Wenn die Woken etwas nicht haben, dann ist es Ironie und Humor (lacht). Es gibt also noch durchaus ein paar Register, die man ziehen kann, ohne völlig in Schweigen zu versinken.

Wir Deutsche zeigen gerne mit dem Finger auf andere, fühlen uns moralisch erhaben. Warum sind wir dafür so anfällig?

Das ist geschichtlich bedingt. Das liegt nicht nur an der Nazizeit, sondern auch daran, was man die verspätete Nation genannt hat. Wir haben erst sehr spät eine nationale Identität entwickelt. Unser Selbstbewusstsein litt unter vielen Krisen: Wir waren entweder größenwahnsinnig oder befanden uns in einem Bußritual. Es gab nie eine vernünftige bürgerliche Mitte, übrigens in der Romantik auch nicht. Die Nazizeit hat uns als Weltmeister des Bösen gezeigt und jetzt wollen wir die Weltmeister der Guten sein. Es ist schon sehr lästig und peinlich für den Rest der Welt, wenn wir mit dem moralischen Zeigefinger durch die Welt reisen, was buchstäblich Frau Baerbock macht, in der sie auf jeder Reise betont, dass Deutschland den anderen gerne Demokratie beibringen möchte oder sie möchte allen erklären, wie eine werteorientierte feministische Außenpolitik funktioniert. Dass man noch hinter vorgehaltener Hand über Deutschland lästert, liegt auch an der wirtschaftlichen und geopolitischen Stellung Deutschlands.

Es gibt viele vernünftige Leute. Menschen, die nicht im öffentlichen Diskurs auftreten. Die müssen sich doch bei manchen Diskussionen ihren Teil denken?

Es ist sehr erquicklich, sich mit normalen Menschen zu unterhalten. Wenn ich mit jemandem spreche, der nicht in den Medien ist, der sich nicht politisch engagiert, sondern einfach nur arbeiten geht und eine Familie hat, der verfügt über ganz normale Ansichten. Und die Reaktion auf solche Themen ist immer die gleiche, nämlich Kopfschütteln. Meistens ein ironisches Kopfschütteln, weil man sich noch nicht so richtig bedroht fühlt, weil einem auch dazu nichts mehr einfällt. Es ist einfach zu durchgeknallt.

Uns scheint es offensichtlich noch gut zu gehen, wenn darüber gesprochen wird Toast-Hawaii umzubenennen, weil die Bezeichnung koloniale Vorurteile aufzeige

Das sind Luxusprobleme, geistige Orchideen, die wachsen, weil es uns gut geht. Weil unsere Wirtschaft nach wie vor so unendlich produktiv ist, obwohl man ihr einen Prügel nach dem anderen zwischen die Beine wirft und sich eine Masse von dieser Wirtschaft parasitär ernähren kann. Das nennt man das Leben vom abgezweigten Profit. Das bedeutet, dass viele von dem Geld leben, das andere erwirtschaftet haben. Das macht einerseits abgehoben, gleichzeitig ist es maßlos arrogant gegenüber denjenigen, die arbeiten, die produktiv sind. Und das ist wirklich bedenklich. Die Spaltung der Gesellschaft findet längst nicht mehr zwischen Links und Rechts statt, sondern zwischen denen, die den Betrieb am laufen halten und denen, die in einer gigangtischen Blase eine Parallelwelt konstruiert haben.

Diese Parallelwelt rekrutiert sich im Wesentlichen aus Institutionen der Bildungsanstalten. Diese Leute sind ohne Realitätskontakt von der Kita über die Schule ins Gymnasium in die Universität gekommen und von dort, oft ohne Uniabschluss, in die Partei eingetreten, um ihre Karriere schließlich in Brüssel zu beenden. Sie haben mit ihresgleichen eine Parallelwelt konstruiert und wollen uns ihre Wirklichkeit überstülpen.

Foto: Langen-Müller

Sind Sie um die jüngere Generation besorgt?

Ich sehe die Jüngeren als zweitrangiges Problem. Jugendliche haben das Recht, bescheuert zu sein. Der Punkt ist nur, dass sie irgendwann erwachsen werden müssen. Die Schwelle des Erwachsenwerdens schiebt sich immer mehr hinaus und es gibt mittlerweile die Möglichkeit, überhaupt nicht erwachsen zu werden. Aber im Hinblick auf die Jungen bin ich nicht pessimistisch. Das Problem liegt bei den Hintermännern von Wokeness, Last Generation oder Fridays For Future. Allein die Tatsache, dass die Last Generation sich dafür bezahlen lässt, wenn sie sich anklebt, spricht Bände. Investigative Journalisten könnten recherchieren, welche Organisationen dahinter stecken, wer das Geld fließen lässt.

Was sind Ihre Hoffnungen?

Mit meinem Buch wollte ich die Leute mit Argumenten versorgen, die bei dem ganzen Wahnsinn den Kopf schütteln. An die Woken komme ich mit meinen Ansichten gar nicht heran, sie werden mein Buch nicht mal mit dem Handschuh anfassen. Es gibt übrigens auch noch vernünftige Linke, die argumentieren können. Meine leise Hoffnung ist, dass diese Linken irgendwann mal sagen, das hat mit unseren gesellschaftskritischen Ideen nichts mehr zu tun, wir distanzieren uns davon.

Medienwissenschaftler Norbert Bolz: „Wenn die Woken etwas nicht haben, dann ist es Ironie und Humor“

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