Christina zur Nedden ist Asien-Korrespondentin bei der „Welt“ und lebt in Singapur. Sie schrieb den Kommentar „Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu leben„. Im Interview spricht sie über Singapurs „Second Economy“ und was sie an Deutschland vermisst.

Zu Ihrem Kommentar „Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu leben gab es viele Reaktionen. Haben Sie damit gerechnet?

Christina zur Nedden: Damit habe ich nicht gerechnet. Kommentare bekommen generell mehr Aufmerksamkeit, weil man Stellung bezieht. Mir schrieben viele Deutsche, die bereits im Ausland leben, dass sie meine vorgebrachten Punkte nachvollziehen können. Auch ältere Leser erzählten mir, dass sie unzufrieden mit dem deutschen Bildungswesen sind, das ihre Enkel genießen. Natürlich gab es auch kritische Kommentare, damit muss man rechnen. Ich hatte generell das Gefühl, dass viele Leser sich fragen: “Wieso kriege ich so wenig, wenn ich in Deutschland so viel Steuern zahle?” Trotzdem herrscht bei vielen noch der Konsens, dass Deutschland generell ganz vorne mit dabei ist.

Sie bringen in Ihrem Kommentar Beispiele aus Berlin. Da kam in einigen Kommentaren die Kritik, dass man Berlin nicht mit Singapur vergleichen könne

Ich habe zehn Jahre in Berlin gelebt, deswegen habe ich mit dem Brennglas draufgeschaut und von Berlin auch die meisten Beispiele in meinem Kommentar angeführt. Aber ich habe auch viele Beispiele genannt, die für ganz Deutschland gelten: Dass die Steuern so hoch sind, dass die Bahn nicht pünktlich kommt, dass Eltern keinen Kitaplatz finden. Ich kenne Leute, die in Bayern auf einen Kitaplatz ein Jahr gewartet haben.

Woher kommt Ihr Interesse an Asien?

Asien hat mich schon immer interessiert. Meine Masterarbeit habe ich über China geschrieben und mein Auslandssemester während des Bachelors in Hong Kong gemacht. Mein kleiner Bruder ist vor zehn Jahren nach Indonesien ausgewandert, für einen Zwischenstopp war ich öfters in Singapur. Seit 2021 lebe ich jetzt mit meinem Mann und unserem Sohn in Singapur. Er kam dort auch zur Welt.

Kontrast zwischen Tradition und Moderne: Chinatown in Singapur. Foto: Pixabay

Viele sagten in den Kommentaren auch, dass Singapur keine Demokratie sei, überall gebe es Videoüberwachung

Es gibt sehr viele Kameras. Man kann im Café sein Handy auf dem Tisch liegen lassen, wenn man auf die Toilette geht, weil es keiner wegnimmt und alles auf Kamera aufgezeichnet ist. Diese hohe Sicherheit gefällt vielen Menschen. Was nicht stimmt, ist, dass jemand ins Gefängnis kommt, wenn er einen Kaugummi auf die Straße spuckt. Man kann in Singapur keine Kaugummis kaufen, das ist schon eine Besonderheit. Ich habe auch hier noch nie Polizei auf der Straße gesehen oder, dass jemand von ihr kontrolliert wird. Ich verhalte mich in Singapur wie in Deutschland. Ich bin hier zu Gast. Meine Aufenthaltsgenehmigung ist an meinen Job gebunden. Wenn ich meinen Job verliere, bin ich in 90 Tagen weg. Es fällt mir nicht schwer, mich respektvoll zu verhalten, weil ich hier sehr viel dafür kriege.

Die Todesstrafe ist in Singapur noch nicht abgeschafft

Ich verstehe die Kritik, dass es hier noch die Todesstrafe gibt. Das finden viele Leute in Singapur auch nicht gut. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie irgendwann abgeschafft wird. Stockhiebe als Strafmaßnahme sind hier auch noch verbreitet. Ausländer betrifft das aber nicht. Wenn ich hier gegen das Gesetz verstoße, dann fliege ich aus dem Land. Aber es gibt auch Fortschritte: Der Sex zwischen Männern wurde zum Beispiel gerade entkriminalisiert.

Ich war schon in Singapur. Ich fühle mich dort sicherer als in Deutschland

Das verstehe ich gut. Wenn ich in Berlin abends aus dem Haus ging, hatte ich immer Angst. Ich hatte stets den Schlüssel griffbereit oder habe die Straßenseite gewechselt. Hier kann ich mitten in der Nacht am Fluss entlang gehen und durch die Unterführungen laufen. Das ist als Frau sehr angenehm.

Viele schrieben unter Ihren Kommentar, dass der Staat in Deutschland seine Funktion nicht mehr wahrnimmt. Von Staatsversagen war die Rede. Wie sehen Sie das?

Dazu kann ich eine gute Anekdote erzählen. Ich mache mir jeden Tag unter der Woche einen Eintrag für 16 Uhr im Kalender, dann ist es in Deutschland 9 Uhr, um beim Finanzamt anzurufen. Denn mir wird eine Steuer abgezogen, die mir gar nicht abgezogen werden dürfte, weil ich in Singapur meine Steuern zahle. Das Geld wird mir seit April letzten Jahres abgezogen. Wenn ich anrufe, geht entweder keiner ans Telefon oder, wenn jemand rangeht, das ist bislang einmal passiert, war die Person sehr unfreundlich und legte einfach auf. Die langen Bearbeitungszeiten werden mit der Pandemie begründet und die Leute haben auch sicherlich viel auf dem Tisch liegen. Aber ich lebe jetzt fast zwei Jahre nicht mehr in Deutschland und habe immer noch Probleme mit den deutschen Behörden.

Wie kann ich mir Ihr Leben in Singapur vorstellen? 

Ich arbeite von zu Hause. In der Gegend, in der wir leben, gibt es viele Restaurants und Cafés, die am Fluss liegen. Hier fühlen sich viele Expats wohl, weil sie an die frischen Luft gehen können und es keine Wohngegend ist, die nur aus hohen Häusern und Shopping-Malls besteht. Die Leute machen hier viel Sport oder reisen viel, weil Singapur nicht groß ist. Bali, Thailand oder Vietnam liegen nicht weit von Singapur entfernt. Viele sagen,, dass Singapur langweilig ist. Es ist klein, im Vergleich zu Europa gibt es weniger Kulturangebot. Mir ist aber bisher noch nicht langweilig geworden, aber ich reise auch ab und zu für die Arbeit. So war ich letztes Jahr in Indonesien, Südkorea, Taiwan, Thailand und Australien.

Vermissen Sie etwas aus Deutschland?

Ich vermisse die Jahreszeiten, hier herrscht jeden Tag das gleiche Wetter: Im Dezember regnet es zwar etwas mehr und im Sommer ist es ein bisschen heißer, aber sonst sind es jeden Tag um die 30 Grad und etwa 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Man verliert das Zeitgefühl, wenn jeder Tag gleich ist. Vor allem an Weihnachten habe ich Schnee und Kälte vermisst, tropische Weihnachten sind schon etwas seltsam.

Jewel Changi Airport, Foto: Pixabay

Das Leben in Singapur ist nicht gerade billig

Ds stimmt. Singapur wird gerade sehr teuer. Mittlerweile ist sie die teuerste Stadt der Welt. Bei der Miete läuft es meist so, dass man einen Vertrag für zwei Jahre hat. Nach dem Ablauf der zwei Jahre darf die Miete erhöht werden, es gibt derzeit nicht so etwas wie einen Mietpreisdeckel. Ich habe gehört, dass in unserem Wohnkomplex die Miete um 50 Prozent erhöht wurde. Singapur zieht demnach Menschen an, die gut verdienen. Unternehmen müssen eine Quote bei der Einstellung von Einheimischen erfüllen. Sie müssen genau darlegen, warum sie sich für einen Ausländer anstelle eines Einheimischen entschieden haben. Das hat zur Folge, dass am Ende nur noch hochqualifizierte Ausländer reinkommen oder diejenigen, die so viel Geld mitbringen, dass sie ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen. Es ist ein sehr elitäres Umfeld.

Es gibt unterschiedliche Arten von Wohnmöglichkeiten in Singapur

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in Singapur zu leben. Die meisten Ausländer leben in “Condos”. Das sind Hochhäuser mit kleineren Wohnungen, dazu gehören Facilities, wie ein Pool oder ein Fitnessstudio. Dann gibt es noch die alten chinesischen “Shophouses” von denen es nur wenige gibt. Die sind sehr hübsch, haben aber keine Facilities. 80 Prozent der Singapurer leben in sogenannten “HDBs” (Housing Development Board, dabei handelt es sich um Wohnungen, die der Staat durch subventionierte Preise und günstige Finanzierung vergibt). Dann gibt es noch die Wohnheime für Arbeiter, die zum Beispiel auf Baustellen arbeiten.

Diese Arbeiter führen sicher ein ganz anderes Leben als die Ausländer

Es gibt in Singapur eine Art “Second Economy” an Arbeitern, die für ihre Verhältnisse sehr gut verdienen und Geld an ihre Familien schicken. Dazu gehören auch Foreign Domestic Workers (FDW), umgangssprachlich „Nannys“ genannt. Wir beschäftigen zum Beispiel auch eine Nanny, weil mein Mann und ich ohne diese Unterstützung gar nicht beide Vollzeit arbeiten könnten. Natürlich gibt es leider auch Fälle von Misshandlung der Nannys, da greift der Staat dann aber durch und bestraft die Täter. In Deutschland sehen viele Menschen die Beschäftigung von Hilfe im Haushalt als kritisch, aber die meisten Angestellten sind wie ein Teil der Familie froh, so ihre Familien zuhause versorgen zu können.

Leben in Singapur: „Es fällt mir nicht schwer, mich respektvoll zu verhalten, weil ich hier sehr viel dafür kriege“

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