Die österreichisch-japanische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar erzählt in ihrem Roman „Oben Erde, unten Himmel“ vom Tod und dem Umgang der Menschen damit. Im Interview spricht die Autorin unter anderem darüber, warum das Sterben in Einsamkeit in Japan so verbreitet ist.

In ihrem Buch geht es um „Kodokushi“, das einsame Sterben in Isolation. Warum wollten Sie darüber schreiben? 

Milena Michiko Flašar: Das Thema Einsamkeit ist ein weites Feld. Korrekterweise müsste man weniger von DER Einsamkeit als von Einsamkeiten sprechen. Viele Geschichten verbergen sich darin. Viele Namen, Gesichter und Stimmen. Der Wunsch, sie in Form eines Romans sicht- und hörbar (manchmal auch riechbar) zu machen, hat mich dazu bewogen, mich mit „Kodokushi“ auseinanderzusetzen. Es geht um die Einsamkeit der Toten, dann aber auch um die der Lebenden. Es geht darum, sie – so man noch kann und will – hinter sich zu lassen und Verbindlichkeiten zu wagen. Weniger als vom Sterben handelt der Roman deshalb vom Leben der Hauptfigur Suzu, die Schritt für Schritt Empathie und Mitgefühl lernt. Indem sie beginnt, auch mal den einen oder anderen Umweg für jemanden zu gehen, holt sie sich etwas von dem Leben zurück, das sie bisher auf Armlänge von sich gehalten hat.

Die Autorin Milena Michiko Flašar wurde 1980 in Österreich geboren. Tochter einer Japanerin und eines Österreichers, schrieb sie mehrere Bücher, in denen die japanische Kultur eine große Rolle spielt, unter anderem den ausgezeichneten Roman „Herr Katō spielt Familie“. Foto: Helmut Wimmer

Warum ist „Kodokushi“, es gibt extra einen eigenen Namen dafür, so verbreitet in Japan? 

Ich denke, das hat mit der schieren Anzahl der Menschen zu tun, die dort auf engstem Raum nebeneinander wohnen. Allein die Metropole Tokio zählt mehr als 30 Millionen Einwohner. Da sind natürlich auch die Zahlen derer, die einen einsamen Tod sterben, größer. Auf der anderen Seite hat das aber sicher auch mit der Tatsache zu tun, dass Japaner und Japanerinnen – generell gesprochen – mit persönlichen Problemen eher an sich halten. Privates bleibt privat. Man kehrt es ungern nach außen. Und um Hilfe zu bitten, wenn man sie braucht (gerade wenn man alt und darauf angewiesen ist), stellt dann auch eine höhere Hürde dar, als das bei uns der Fall ist. Um die Harmonie zu wahren, zwischen Gruppe und Individuum, verzichtet man darauf, sich mit seinen Befindlichkeiten bemerkbar zu machen.

Entstammen die Personen aus dem Buch realen Personen aus dem Leben?

Es handelt sich um fiktive Figuren, wobei einzelne Aspekte dem realen Leben entnommen sind. Oft ist es schwierig, hier eine klare Trennung vorzunehmen. Manches erfindet man. Manchem ist man aber auch da oder dort begegnet und verwandelt es in Literatur. Man nimmt quasi einen Teil aus dem echten Leben und flicht es neu und aus frischem Blickwinkel in die Textur einer Geschichte ein.

Haben Sie mit „Kodokushi“ selbst Erfahrungen gemacht in Ihrem näheren Umfeld? Ich frage, weil sie eine japanische Mutter haben

Nein. Direkte Erfahrungen habe ich damit nicht gemacht. Ich kenne allerdings Leute, die Zeugen eines „Kodokushi“ geworden sind, und im Prinzip kann das sicherlich jedem passieren. Nicht immer hat man sein Umfeld im Blick, und oft vergehen Tage oder Wochen, eher man seinen Nachbarn oder Nachbarinnen im Treppenhaus wiederbegegnet. Im Umkehrschluss bedeutet das: Auch man selbst ist vor keinem „Kodokushi“ gefeit. Der Gedanke – dass er allen geschehen kann – macht das Thema zu einem universellen.

Wie eng ist Ihre Beziehung nach Japan durch Ihre Mutter? Reisen Sie oft nach Japan? 

Vor der Corona-Zeit waren wir jedes Jahr einmal in Japan. Erst dieses Jahr kommen wir dazu, die Tradition wieder fortzusetzen. Abseits der Reisen ist es aber gerade die Sprache, die meine Beziehung zu Japan lebendig hält. Mit meiner Mutter habe ich von Kind auf japanisch gesprochen, und ich bin zwar bei weitem nicht perfekt darin, mir fehlen viele Nuancen in der Ausdrucksweise und auch schriftlich habe ich es nie weiter als bis zum Drittklässler geschafft, trotzdem haben wir uns dazu entschieden, unseren Sohn zweisprachig zu erziehen. Mein Mann spricht deutsch mit ihm, ich japanisch. Unsere Beziehung zu dem Land wird durch die Zweisprachigkeit gefestigt. Sie ist sozusagen ein natürlicher, organischer Teil unseres Alltags.

Zelebrieren Sie das japanische Leben in Österreich? Zum Beispiel durch Bräuche oder Essen?

In unserem täglichen Leben spielt Japan eine wichtige Rolle. Wir haben darin gewisse Nischen eingerichtet, in denen es für uns greifbar ist und bleibt. Da sowohl mein Mann als auch ich große Japan-Liebhaber sind, haben wir etwa zur Corona-Zeit, als es nicht möglich war, dorthin zu reisen, ein Japan-Zimmer eingerichtet. Wir haben dafür einen Teil unseres Wohnzimmers mit Tatami-Matten ausgelegt und uns mit japanischen Möbeln eingedeckt. Außerdem haben wir ein Faible für japanische Holzschnitte und Rollbilder. Insofern ist Japan bei uns zu Hause Schon ziemlich präsent. Die Lieblingsspeise unseres Sohnes ist Reis mit Fisch, Misosuppe und Eingelegtes. Auch kulinarisch betrachtet, halten wir uns oft in Japan auf.

Was fasziniert Sie an der japanischen Kultur?

Ihre Einzigartigkeit fasziniert mich. Die japanische Kultur ist eine, mit der man sich als Außenstehender aufgrund ihrer Nähe zum Westen relativ leicht vertraut machen kann. Zugleich gibt es Aspekte, die einem auf berückende Weise fremd bleiben. So viele Rätsel gibt es da, so viele Geheimnisse. Was mich außerdem fasziniert, ist die Art, wie man in Japan mit Dingen umgeht. Auch tote Gegenstände können eine Seele besitzen. Indem man ihnen etwa ein Gesicht gibt (oder eine Stimme), werden sie lebendig. Was auch den Umgang mit ihnen verändert: Man geht achtsamer mit ihnen um, und das vermeintlich Hässliche (Alte, Verbrauchte) kann zu einem Ausdruck von Schönheit werden. Die Fähigkeit der Japaner, im Flüchtigen und Vergänglichen das Essenzielle zu erkennen, halte ich für eine großartige Fähigkeit. Man sieht im Unvollkommenen das Vollkommene und schätzt es dadurch mehr. Eine schon rostige, vielleicht auch zerbeulte Teekanne aus Gusseisen kann somit gleichwertig neben einer strahlend neuen stehen. Beide haben ihre ganz eigene Schönheit.

Stand einmal die Überlegung im Raum, in Japan zu leben? 

Tatsächlich wäre das ein Traum von mir: ein Jahr (oder auch nur ein halbes) in Japan zu leben. Zur Zeit ist es aber – aufgrund der beruflichen Situation meines Mannes – eher schwierig, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Er wird wohl noch eine Weile ein Traum bleiben müssen. Was aber auch sein Gutes hat: Gerade Unerfülltes vermag das Herz mit frohen Hoffnungen und Erwartungen zu füllen.

Information: Dieses Interview wurde schriftlich geführt.

„Kodokushi“ – Milena Michiko Flašar und ihr berührender Roman über das Sterben in Isolation

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