Luiz Ruffato gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Brasiliens – und mitunter zu den kritischsten Beobachtern seines Landes. Im Interview spricht er über seine einfache Herkunft, seine geringen Erwartungen an die Präsidentschaftswahl 2022 und warum er die Intellektuellen Brasiliens kritisch sieht.

Herr Ruffato, Brasilien wurde schwer durch das Coronavirus getroffen. Bis jetzt sind über 600.000 Menschen gestorben. Wie geht es gerade der Seele Brasiliens?

Luiz Ruffato: Brasilien wurde doppelt getroffen: Nicht nur durch die Pandemie, sondern auch wegen der Misswirtschaft der Regierung durch den Präsidenten Jair Bolsonaro. Die Menschen sind ziemlich niedergeschlagen.

Gab es von der Regierung eine finanzielle Stütze?

Ruffato: Es gab eine Mini-Stütze für die Gesellschaft. Aber die gesamte Dienstleistungsbranche hat überhaupt nichts bekommen. Nur damit Sie eine Vorstellung haben: Ich lebe in São Paulo an einer über zwei Kilometer langen Straße. Ich habe letztes Jahr 45 Geschäfte gezählt, die schließen mussten. Darunter waren Restaurants, Bars, Bäckereien, Wasch-Salons. Hinzu kam, dass die Regierung sehr langsam auf das Virus reagiert hat. Auch dauerte es lange, bis die Menschen geimpft wurden. Das Ganze ist eine einzig große Tragödie.

Ich lese Berichte, dass viele Brasilianer wieder Hunger leiden?

Ruffato: Das ist ein weiteres Problem. Unter der Regierung Lula (Luiz Inácio Lula da Silva) und unter Dilma Rousseff haben wir es aus dem Welthunger-Index geschafft. Es gab zu dem Zeitpunkt keinen Brasilianer, der in einer akuten Hungersnot war. Wenn ich heute die Straße entlanglaufe, habe ich noch nie so viele Menschen in Not gesehen. Da leben teilweise ganze Familien auf der Straße. Sie sind abhängig von Wohltätigkeitsorganisationen, der Staat gibt ihnen keinen Schutz. Das Problem ist mittlerweile so sichtbar, auch in den wohlhabenden Vierteln.

Luiz Ruffato: „Der brasilianische Staat schert sich nicht um Sozialpolitik“

Wenn das Problem so offensichtlich ist, warum handelt die Regierung nicht?

Ruffato: Als Jair Bolsonaro Präsident wurde, war klar, dass er eine neoliberale-radikale Wirtschaftspolitik verfolgt. Eine solche Politik ist nicht den armen Bevölkerungsgruppen verpflichtet. Sie muss ihnen keine Nahrung, Unterkunft und eine Beschäftigung garantieren. Dann kommt noch etwas sehr Spezielles hinzu: Heute ist rund die Hälfte der Brasilianer nicht mehr katholisch, sondern evangelikal (Pfingstler). Ihre Bekenntnisse basieren auf einer Wohlstandstheologie. Einfach ausgedrückt bedeutet es: Wenn du Geld hast, dann, weil Gott auf dich aufpasst. Und derjenige, der sich in einer Notlage befindet, ist einfach weit von Gott entfernt. Der Staat schert sich deshalb auch nicht um Sozialpolitik.

In Ihren Büchern schreiben Sie über diese benachteiligten Menschen, auch wieder in ihrem fünften Band „Sonntage ohne Gott: Vorläufige Hölle“. Sie geben Ihnen eine Stimme. Wird darüber auch unter den Intellektuellen Brasiliens diskutiert?

Ruffato: In Brasilien ist die intellektuelle Klasse sehr weit von den unteren sozialen Klassen entfernt. In Ländern wie Brasilien gehören die Intellektuellen zur gehobenen Mittel- oder Oberschicht, mit einem sehr starken Bekenntnis zu ihrer eigenen Schicht. Es gibt eine sehr große Kluft zwischen dem Denken der Intellektuellen und dem, was tatsächlich im Leben der Menschen passiert. Die Intellektuellen stellen sich vor zu wissen, wie die Menschen leben, aber sie wissen es nicht.

Schriftsteller-Star: „Die brasilianische Gesellschaft ist überhaupt nicht durchlässig“

Sie kommen selbst aus einfachen Verhältnissen. Sie sind in der kleinen Stadt Cataguases im Bundesstaat Minas Gerais aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitete als Waschfrau, Ihr Vater verkaufte Popcorn. Sie haben es auf die Universität geschafft, wurden Schriftsteller. Ein „normaler“ Lebensweg war das sicherlich nicht?

Ruffato: Nein, das ist nicht normal (lacht). Die brasilianische Gesellschaft ist überhaupt nicht durchlässig. Ich sage immer scherzhaft: Wenn ich einen Armani-Anzug und schicke italienische Lederschuhe trage, bin ich immer noch der Arme aus dem Landesinneren, dessen Mutter als Waschfrau gearbeitet und dessen Vater Popcorn verkauft hat. Ich bin zwar die soziale Leiter hinaufgeklettert, aber ich gehöre trotzdem nicht dazu. Ich glaube, deswegen ist Veränderung in Brasilien auch so schwierig, weil jede Klasse an ihren Privilegien festhält und unter sich bleiben will.

Sie leben in São Paulo. In Ihrem Buch „Es waren viele Pferde“ beschreiben Sie sehr eindrücklich einen Tag in São Paulo in 69 Szenen mit ganz unterschiedlichen Menschen. Wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Stadt?

Ruffato: Meine Beziehung zu São Paulo ist sehr komplex (lacht). Die Stadt ist rau und kompliziert, aber sie bietet jemandem wie mir, der vom Land kommt, die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen. Der Bundesstaat São Paulo unterscheidet sich in vielen Dingen von anderen Bundesstaaten: Während in vielen Bundesstaaten erst rund 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, liegt die Zahl in São Paulo bei 85 Prozent. Die Stadt ist auch sehr gut für jemanden, der beruflich gerade durchstartet.

„Die wenigsten gehen in São Paulo zu Fuß“

São Paulo hat die höchste Dichte an Hubschraubern. Wenn ich mir klischeemäßig das Bild der Oberschicht vorstelle, dann fahren sie mit dem Auto oder fliegen mit dem Hubschrauber. Zu Fuß sind sie vermutlich eher weniger unterwegs?

Ruffato: (Lacht) die wenigsten gehen zu Fuß. Die Stadt ist auch sehr groß. Wenn man Glück hat, sind Wohnung und Arbeitsplatz nicht zu weit voneinander entfernt. Viele aus der Mittel- und Oberschicht genießen dieses Privileg. Das hat aber auch zur Folge, dass man nur einen sehr kleinen Teil der Stadt nutzt. Ärmere Menschen, die von außerhalb kommen, habe eine sehr weite Anreise zu ihrem Arbeitsplatz. Sie nutzen den öffentlichen Nahverkehr, der nicht toll ist, aber immer noch der beste in ganz Brasilien. Ich habe keinen Führerschein. Jede Erledigung, jeden Termin, der eineinhalb Stunden von mir entfernt ist, mache ich zu Fuß. Meine Freunde erklären mich jedes Mal für verrückt, aber für meine Gesundheit ist es nicht schlecht (lacht). Man darf allerdings nicht vergessen, dass viele der Sicherheit wegen nicht zu Fuß gehen.

Werden Sie irgendwann wieder in Ihre Heimatstadt ziehen?

Ruffato: Nein. 1990 haben noch 60 Prozent der Brasilianer auf dem Land gelebt, der Rest in der Stadt. Es gab viele Probleme, die Leute hatten auf dem Land keinen Job, es ging ihnen gesundheitlich schlecht, der Analphabetismus war sehr hoch. Die Menschen strömten in die Städte und die waren überhaupt nicht auf so viele Menschen vorbereitet. Es gab keine gute Infrastruktur, kein Wasser, keine Stadtplanung, nicht genug Wohnungen. So entstanden dann auch die Favelas (Armenhütten). Jetzt lebt die Mehrheit in der Stadt. Trotz der Probleme in den Städten ist es immer noch besser, als auf dem Land zu leben. In meiner Stadt gibt es keine Jobs, der Handel mit Drogen floriert. Das ist alles sehr schwierig.

Über die Hügel von Rio de Janeiro ziehen sich die Armenviertel, die sogenannten Favelas.

„Die Arbeiterpartei lebt im Guten und im Schlechten mit Lula“

Dieses Jahr wird in Brasilien gewählt. Gegen den aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro tritt der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) von der Arbeiterpartei an. Wie schätzen Sie deren Chancen ein?

Ruffato: Ich mache eine Prophezeiung: Lula wird im ersten Wahlgang gewinnen. Als ich mir das Impeachment-Verfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff (sie ist wie Lula von derselben Partei) im Jahr 2016 im Fernsehen angeschaut habe und die Abgeordneten reden hörte, war das für mich eine wichtige Lektion. Ich wusste das schon vorher, aber da wurde mir noch einmal bewusst, wie Brasilien tickt: Brasilien ist homophob, rassistisch, ein Macho-Land. Und die Abgeordneten, die in dem Impeachment-Verfahren gesprochen haben, sind ein Abbild der brasilianischen Gesellschaft. Da war mir klar, dass Bolsonaro gewinnen wird, auch wenn meine Freunde das anfangs nicht glauben wollten. Und die, die damals Bolsonaro gewählt haben, wählen jetzt Lula.

Lula ist 76 Jahre alt, er regierte von 2003 bis 2011. Er wurde wegen Korruption verurteilt, die Urteile wurden aufgehoben. Warum tritt er noch einmal an?

Ruffato: Weil es seine Partei in so vielen Jahren nicht hingekriegt hat, eine andere Führungspersönlichkeit hervorzubringen. Sie lebt im Guten und im Schlechten mit Lula. Ich sehe ihn zwar sehr kritisch, aber ich bin auch der Meinung, dass Lula der beste Präsident war, den wir hatten, da er die Menschen aus der Armut geholt und viel in der Sozialpolitik getan hat. Auch international hatten wir eine andere Stellung als heute. Mit Bolsonaro und der Pandemie haben wir einen herben Rückschlag erlitten. Lula wird ein anderes Land vorfinden als damals.

Ich habe schon rausgehört, dass Sie von Bolsonaro nicht so viel halten? 

Ruffato: Man kann ihn eigentlich gar nicht beschreiben, weil wir so jemanden noch nie als Präsidenten hatten. Ich bin kein Psychiater, aber wenn sich Bolsonaro beim Psychologen einem Gutachten unterziehen müsste, dann würde herauskommen, dass er ein Psychopath ist. Er hat überhaupt keine Empathie, er ist ein schlechter Mensch, er lügt unverfroren. Seitdem er das Amt übernommen hat, hat er nichts geschaffen, er hat nur zerstört.

Welche Pläne haben Sie noch?

Ruffato: Ich werde im Herbst ein neues Buch rausbringen. Es geht um einen Mann, der schwer krank ist, es wird im Buch nicht aufgeklärt, an was er sterben wird. Er kehrt zurück in seine kleine Stadt. Dort wird er mit den ganzen Problemen konfrontiert, die es auch in der Großstadt gibt und wo mancher denkt, ach, das passiert doch nicht in einer Kleinstadt. Ich musste teilweise bei unserem Gespräch schmunzeln, weil wir doch einige Themen aus meinem Buch hier angesprochen haben (lacht).

Luiz Ruffato über Brasilien: „Homophob, rassistisch, Macho-Land“

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